Freitag, 21. Juli 2017

Die biblische Lehre von der Erwählung

Eben habe ich einen interessanten Beitrag zur Prädestination auf
http://hanniel.ch/2017/07/19/standpunkt-die-biblische-lehre-von-der-erwaehlung/
gelesen. Dabei ist interessant, dass Hanniel nicht von Augustin und Calvin überzeugt wurde, sondern von der Bibel. Am Ende geht er auf das Thema der Zurechnung der Erbsünde wie auch der Gnade ein. Hier möchte ich noch anfügen, dass wir sündigen, weil wir Sünder sind  und nicht Sünder sind, weil wir sündigen. D.h. unser reales Verhalten und unsere tatsächlichen tiefsten Motive sind durch den Sündenfall von Adam sündig. Wir sündigen also, weil es zu unserer sündigen Natur gehört. (Dies bedeutet nicht, dass wir auch gute Werke machen. Aber die Motive hinter allem, sogar den besten Werken ist nicht so gut, wie wir im ersten Moment glauben.) Diese Zurechnung oder Ererbung der Erbsünde ist also nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich vorhanden und wir beweisen täglich, wessen Kinder wir sind. Darum ist die Zurechnung der Gnade Gottes durch Jesus Christus ebenso real! In Christus sind wir wirklich rein und gerecht, obwohl wir es aus uns nicht sind und obwohl erst beim zweiten Kommen diese geistliche Wahrheit, dass wir Gott gehören, auch wirklich in der ganzen Fülle durchdringt. Luther spricht ja sogar davon, dass Gott mit uns heuchelt: Gott behandelt uns wie Heilige und nennt uns Heilige, weil Christus für unsere Sünden gestorben ist, obwohl wir es aus uns überhaupt nicht sind. Auch Paulus schreibt im Römerbrief so ca. 7. und 8. Kapitel, wie er (als Wiedergeborener), nun das Gute will, aber sein Fleisch, d.h. seine menschlichen Möglichkeiten, wollen das gar nicht. Gott in ihm will. Sein geistliches Leben will. Aber sein alter Mensch will und kann sogar nach seiner Bekehrung nicht. "Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Todesleib? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseres Herrn! So diene nun ich selbst mit der Gesinnung dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde." (Römer 7,24+25) "So gibt es nun keine Verdammnis mehr für die, welche in Christus Jesus sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist." (Römer 8,1) (zugegeben: Paulus schreibt komplex. Das ist Hirn und Herz-Training)

Hier ist Haniels Beitrag:

Standpunkt: Die biblische Lehre von der Erwählung

Ron Kubsch hat in dieser engagierten Diskussion die biblische Lehre der Erwählung und Erlösung wunderschön ausgeführt. Ich habe einige seiner Kommentare zusammengestellt:
  1. Der Mensch steht wegen seines Ungehorsams (!) unter dem Zorn Gottes, nicht wegen seiner Unschuld.
  2. „Gott kann nicht ungerecht sein“, ist nicht postmodern, sondern prämodern, vgl. z.B. Röm 9. Entscheidend wird sein, was genau unter „gerecht“ verstanden wird. In der von mir kritisierten postmoderne Theologie setzt der Mensch den Standard für Gerechtigkeit. Gemäß reformierter, aber auch katholischer, Theologie ist Gott der Gesetzgeber. Er legt also fest, was gerecht ist.
  3. Gott ist gut. Er entscheidet gemäß seinem Wesen und ist sich selbst Gesetz. Gott handelt notwendig gut, weil er gut ist. Gott regiert seinem Charakter entsprechend und in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das er sich selbst gibt und ist damit für die Menschen ein zuverlässiger Bundespartner (er steht weder unter, noch über, dem Gesetz).
  4. Gott hat aus allen Sündern einige auswählt (und belässt andere in ihrer Sünde, übergeht sie also). Eigentlich haben alle Menschen den gerechten Zorn Gottes verdient. Gott erbarmt sich aber einiger und rettet sie durch Christus.
  5. Die Menschen, die unter Adam geboren sind, sind ja nicht mehr frei.Adam war frei. Sie sind doch Sklaven der Sünde. Aus der Tiefe der menschlichen Sündhaftigkeit ergibt sich, dass der gefallene Mensch gar nicht anders kann als zu sündigen (lat. non posse non peccare). Er ist wirklich verloren, tot in seinen Verfehlungen (vgl. Eph 2,1.5).
  6. Ich glaube nicht, dass alles, was geschieht, von Gott kommt. Ich glaube, dass Gott die ganze Welt in seiner Hand hält. Sogar der Satan kann sich nicht über Gott hinwegsetzen (vgl. Hiob 1). Kurz: Gottes Beziehung zum Bösen ist permissiv.
  7. Gott ist nicht abhängig von irgendetwas außerhalb seiner selbst. Er unterliegt keiner Notwendigkeit, die ihn von außen lenkt. Alles, was von Gott geschaffen ist, hängt dagegen von Gottes Willen ab. Der Mensch kann nicht aus sich selbst heraus existieren. Oder anders: Gott braucht den Menschen nicht, aber der Mensch braucht Gott.
  8. Jesus ist für die gekommen, die einen Arzt brauchen, für die Schwachen und Sünder. „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“, fragt Paulus (1Kor 4,7). Aus der Sicht des Apostels ist der Mensch tot in seinen Sünden (Eph 2,1). Denn aus Gnade sind wir „selig geworden durch Glauben, und das nicht aus uns: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme“ (Eph 2,8). Jesus sagt in John 6,65: „Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben“.
  9. Nehmen wir das Beispiel aus Lk 22. Jesus betet dort für Simon Petrus, damit sein Glaube nicht aufhört. Der autarke Petrus, also der ganz auf sich angewiesene Petrus, kann nicht vertrauen und wird den Versuchungen dauerhaft nachgeben. Aber Jesus betet für den Glauben seines Jüngers. Obwohl der Glaube des Petrus eine ur-persönliche Sache ist, wirkt Gott offensichtlich irgendwie in seinem Herzen, so dass Petrus vertraut. Das ist die kompatibilistische Sicht von Freiheit, die wir auch bei den Reformatoren finden.
  10. Die Frage, warum Gott nicht alle Menschen erwählt, kann ich nicht beantworten. Da geht es mir wie Paulus: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne!“ Paulus und „Rechtgläubigen“ vorzuwerfen, sie seien kühl, im biblischen Formalismus gefangen, empfänden also keine Traurigkeit im Blick auf die Verlorenen, überzeugt mich nicht. Es deckt sich auch nicht mit meinen Erfahrungen. Calvin sprach vom „furchtbaren Ratschluss“ (decretum horribile). Oder nehmen wir Paulus. Er schreibt: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und unablässigen Schmerz in meinem Herzen habe. Ich wünschte nämlich, selber von Christus verbannt zu sein für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch, … „ (Röm 9,1–3). In Röm 10,1 schreib er über seine Volksgenossen: „Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden.“ Diesem Gebet schließe ich mich an. Die Traurigkeit kenne ich.
  11. (Den Libertinismus zu verwerfen bedeutet nicht), dass ein Mensch keine Handlungsfreiheit hat (der durch Gott und/oder durch die gefallene Natur allerdings Grenzen gesetzt sind). Ein Sünder entscheidet sich beispielsweise in Übereinstimmung mit seiner Natur für die Sünde.
  12. „Das freie Willensurteil ist das Vermögen, nach deinem eigenem Gutdünken zu handeln, so dass du wirklich von dir aus handelst, nicht von einem anderen in eine Richtung getrieben wirst, die du nicht willst. Dabei ist Gewalt, die ich gegen deinen Willen zwingt und fortreißt, ausgeschlossen, nicht jedoch die Standhaftigkeit, richtig zu handeln und dies notwendigerweise dank der Gabe Gottes.“ (Martin Bucer, Kommentar zum Römerbrief)
  13. Es gibt in Deutschland einen großen Einfluss reformierter Theologie durch Leute wie Francis Schaeffer, J.I. Packer, John Stott, R.C: Sproul, Adolf Zahn oder Martyn LLoyd-Jones. Die Gründer der beiden dt. Freikirchen (Hermann Heinrich Grafe und Gerhard Oncken) sowie Huddon Spurgeon, waren theologisch reformiert (von der Tauffrage abgesehen).
  14. Die Erwählung konkretisiert sich durch Verkündigung und den persönlichen Glauben, traditionell auch als Erleuchtung bezeichnet, die Gott dem Menschen schenkt. Ein klassischer Begründungstext wäre: „Als das die Heiden hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des Herrn, und alle wurden gläubig, die zum ewigen Leben bestimmt waren“ (Apg 13, 48). Das Evangelium wird allen verkündigt und einige werden gläubig. Die Gläubigen wissen, dass der Glaube ihnen aus Gnade geschenkt wurde. Denn aus Gnade sind sie errettet worden, nicht, weil sie was vorzuweisen haben (vgl. Eph 2,8).
  15. Gott ist gerecht und barmherzig. Er hält sich an das, was er verordnet hat. Der Sünde Sold ist der Tod. Die Sünde und Verdammnis ist über alle Menschen gekommen und so auch der Tod. Diese Strafe Gottes ist gerecht. Der Himmel und die Erde werden aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen (vgl. 2Petr 3,7).
  16. So wie die Sünde durch einen Menschen zu uns gekommen ist, so ist auch die rettende Gerechtigkeit durch einen Menschen zu uns gekommen. Christus hat unsere Strafe auf sich genommen. Die, die an Christus glauben und es bekennen, werden errettet. Gott verzögert das letzte Gericht, bei dem die Menschen die verdiente Strafe erhalten. Er hat Geduld und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. Er lässt deshalb durch seine Herolde das Evangelium verkündigen zur Vergebung der Sünden. Leider hören viele Menschen die Einladung nicht.
  17. Ich kann nur sagen, ich habe es nicht verdient. Es ist Gnade, denn ich habe den ewigen Tod viel mehr verdient als die Menschen um mich herum. Ich habe Gott nicht mehr gesucht als andere. Ich bin nicht moralisch besser. Nichts, aber auch nichts, habe ich vorzuweisen. Ich bin völlig unverdient errettet worden. „Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin … Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit!“
  18. Die Erwählung wird ja von Gott in der Geschichte ausgeführt. Die Vorherbestimmung wird im Hier und Jetzt wirksam (Röm 8,30: „Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“). Obwohl etwa die Verheißung eines Retters, der der Schlange den Kopf zertreten wird, schon in Genesis 3 zu finden ist (Gott also einen Plan hatte, das Böse zu besiegen), ist Jesus als historische Person tatsächlich gekommen und hat den Tod besiegt. Gott benutzt dazu die Verkündigung des Evangeliums, das Gebet usw. Die Lehre von der Erwählung ist nie Fatalismus. Ihr Sitz bei den Genfer Theologen war z. B. die Trosttheologie für die verfolgten Christen. Gerade eine Theologie mit einer hohen Sicht der Erwählung hat kirchengeschichtlich die Mission und Evangelisation enorm beflügelt, denken wir an Johnathan Edwards, William Carey oder in jüngster Zeit Francis Schaeffer.
  19. Wenn Gott schon gewusst hat, dass Menschen in die ewige Verdammnis kommen, warum hat er dann überhaupt die Welt und die Menschen geschaffen?  Hier kann ich nur mit Augustinus antworten: „Du, Mensch, erwartest von mir eine Antwort, – und ich bin doch auch ein Mensch!“ Deshalb wollen wir beide auf den hören, der da spricht: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn? (Röm 9,20). Denn ein gläubiges Nichtwissen ist besser als ein vorwitziges Wissen!“ Und noch einmal Augustinus: „Sehr heilsam bekennen wir, was wir sehr recht glauben, nämlich daß der Gott und Herr aller Dinge, der alles ,sehr gut’ geschaffen hat, der zuvor wußte, daß aus dem Guten Böses erwachsen würde, und der wußte, daß es seiner schlechthin allmächtigen Güte eher anstünde, das Böse zum Guten zu wenden, als das Böse nicht geschehen zu lassen, daß dieser Gott das Leben der Engel und der Menschen so angeordnet hat, daß er an ihm zunächst zeigte, was der freie Wille vermag, und dann auch, was die Wohltat seiner Gnade und das Urteil seiner Gerechtigkeit kann!“ (corrept. 10,27).
  20. Wenn ich als Sünder (mit der Erbsünde) auf die Welt gekommen bin, Gott mich also so geschaffen hat, warum werde ich dann noch für Sünde zur Verantwortung gezogen? Weil Adam der Vertreter der gesamten Menschheit war, haben wir „durch“ ihn gesündigt (Röm 5,12-21). Das bedeutet, dass seine Sünde unsere Sünde ist (V. 19), seine Schuld unsere Schuld (V. 16-17). Mit Adam sind wir Teil des Bundes im Garten Eden und als Bundesbrecher Sünder. Ich weiß, dass das Prinzip der Anrechnung für Menschen in der Moderne schwer nachvollziehbar ist. Aber die Bibel kennt diese Regel der Anrechnung von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit (denken wir nur an den Opferkult). So, wie uns die Ungerechtigkeit des einen Menschen angerechnet wird (da Adam die Menschheit vor Gott repräsentiert), so wird uns auch die Gerechtigkeit von Jesus Christus zugerechnet, wenn wir ihm glauben.
Weiterlesen
Mich persönlich hat weder Augustin noch Calvin überzeugt, sondern das intensive Lesen des Alten und des Neuen Testaments.
  1. Thomas Schirrmacher hat auf 80 Seiten das alt- und neutestamentliche Zeugnis zusammengestellt. Das war für mich der erste Zusammenzug, der keine Stelle „ausblendet“.
  2. Starb Christus für alle Menschen? Eine sehr gute Antwort von Thomas Schirrmacher,
  3. Wunderschön legt John Frame die Position des Kompatibilismus dar: „Menschliche Verantwortung und Freiheit“

Wann endlich schaffen wir Gott aus de Landeshymne und die Ehe ab?

Heute habe ich bei der NZZ zu diesem Thema zwei Beiträge gelesen:


Herr René Schaub hält in seinem Beitrag: "Ehe für alle? Ehe für keinen?" fest, dass Ehe für alle nach Privilegien für alle klinge. "Aber Vorrechte für alle kann es es schon rein denklogisch nicht geben." Besser wäre deshalb eine Abschaffung der Ehe." In einer Zeit also, wo die Ehe wieder sehr angestrebt wird (aber gleichzeitig auch das Ausleben für einige schwerer wird), möchten gewisse Gruppierungen die Ehe abschaffen. Es scheint, wenn es nicht direkt geht, schafft man die Ehe so ab, indem man einfach eine Ehe für alle macht. Vielleicht wird es auch unbewusst angestrebt, weil man, wie Schaub meint, eine Art Prämie erhält, wenn man Heiraten kann.
Er beleuchtet dabei sehr viele Fassetten der Ehe. Das Recht der Kinder auf ihren leiblichen Vater und Mutter streift er aber nicht. Vermutlich hat das Neuheidentum sich in gewissen Kreisen so ausgebreitet, dass das Wohl und die Rechte der Kinder nicht mehr wirklich wichtig sind. Die Rechte der Mächtigeren, die müssen gestärkt werden. Es geht darum, dass ich, der was kann und weiss, mir die Welt so einrichte, wie ich es will. Der Postmoderne hat dazu noch eine Irrationalität, mit der er die Realität einfach ausblendet. Soweit geht Herr Schaub nicht. Aber man spürt diese Tendenz, etwas ändern zu wollen, damit es geändert ist und genau dem entspricht, was man sich ausgedacht hat. Nur, ob das, was man sich ausgedacht hat, überhaupt funtkioniert und die Menschen überhaupt wollen, blendet man einfach aus. Gerade gestern habe ich eine Statistik in Deutschland gesehen, wo über 50%  der Ehepaare der Ehemann der Alleinverdiener ist. weitere 20 oder 25% waren teilweise noch Frauen am Einkommen beteiligt. Dann waren ca. 8% der Ehegatten 100% berufstätig und ca. weiter 8% 100% ohne Job. Auch hier scheint man unbedingt alle Kinder möglichst früh in Kindertagesstätten zu führen. Dabei gilt das Motto: Es sei zum Kindswohl. Aber kann es einem Kind bei seinen Eltern nicht auch wohl sein? Und braucht ein Kind nicht gerade in den ersten Lebensjahren seine Mutter, damit er eine "geerdete" Persönlichkeitsstruktur erhält? Und braucht nicht jedes Kind auch einen guten Vater, damit er oder sie ein charakterliches Rückrat erhält? Darüber kann man natürlich diskutieren, ob dem so sei. Gut ist es, wenn man es macht + auch die Realität miteinbzieht. Aber heute gibt es diesen postmoderne Doktrinen. Man nennt sie nicht so. Das war im Mittelalter oder im Christentum. Damals war man noch ehrlich und bezeichnete feste Behauptungen als Doktrin. Man gründete auch Universitäten, um u.a. darüber nachzudenken und zu disputieren. Doch der postmoderne Intellektuelle  stellt sich diesem Prozess immer weniger. Er behauptet einfach und ist damit zufrieden. Dabei kommt auch der schöne Ausdruck: Man kann warten. D.h. jedes Jahr manipuliert man in seine Behauptung, bis die Leute sich dem fügen. Das kommt auch beim zweiten Beitrag über die eidgenössische Naitonalhymne heraus. Am Schluss heisst es, die neue (nicht offizielle) Hymne sei 2016 kaum gesungen worden. Es scheint schwer zu sein, die alte Hymne mit einer Hymne ohne Gott zu ersetzten. Gleichzeitig wird behauptet, wie viel besser die neue sei. Es geht also darum, der Vielfalt der Schweiz Rechnung zu tragen. Und das scheint zu bedeuten, dass Gott nicht mehr vorkommen soll. Die neue Hymne beziehe sich auf die Verfassung. Was natürlich cool ist. Nur auch in der Verfassung gibt es einen Gottes Bezug. Warum hat man denn diese Grundlage nicht ins neue Lied aufgenommen? "Liebe Gott den Herrn der Welt und Deinen Nächsten wie Dich selbst." fasst die biblische Botschaft zusammen, wie Jesus und auch die damaligen Pharisäer wussten. Was ist, wenn wir den Nächsten gar nicht Lieben können, wenn wir Gott nicht zuerst lieben? Dann fehlte uns die Grundlage, um mit unserem Nächsten anständig umzugehen. Eberhard Busch hat ein Buch geschrieben über die Theologie von Johannes Calvin. Er fasst seine Theologie so zusammen: Gotteserkenntis und Menschlichkeit. Calvin Verhalten gegenüber Servet habe nicht dieser Theologie entsprochen. Und hier sieht man auch ganz praktisch, wohin es führt, wenn wir nicht Gott und die Menschen lieben: Wir werden sehr radikal. (Natürlich wurde Servet nach den damals üblichen Rechtsgrundsätzen getötet. Und das besondere war, dass sich Genf überhaupt Gedanken machte, ob dies richtig sei. Sie liessen verschiedene Rechtsgutachten in Bern, Zürich usw., ja sogar von Melanchthon erstellen. Das war eigentlich besonders, weil man in den römisch-katholischen Gegenden in solchen Fällen schon wegen weniger so gehandelt hat.)
Bei der neuen Hymne versuchen sie es 2017 wieder. Sogar vier Altbundesräte werben mit. Und sie haben Zeit, Gott aus unserer Hymne zu vertreiben. Das dann die Hymne etwas schwebend wird, so ideologisch schwebend und ohne Erdung, sei hier nur nebenbei erwähnt. Und natürlich die alte Hymne ist etwas sperrig zu singen. Abe warum kann man nicht auch die eben geäusserten Gedanken hineinflechten? Sind wir heute wirklich in einem Kulturkampf, wo man alles christliche Abschaffen will? Warum wollen Sie das? Was ist der eigentliche Antrieb, warum man Gott los haben will?
Was ist, wenn wir in einem gewissen Sinn eine unsterbliche Seele haben und am Jüngsten Tag vor Gott über alles Rechenschaft geben müssen? Wäre es nicht besser, hier schon seine Sünden vergeben zu lassen und dadurch sich der Realität zu stellen und Barmherzigkeit zu lernen?
Was ist, wenn es so ist, wie es Paulus im Römerbrief schreibt, dass dann einmal unser eigenes Gewissen uns verteidigen und anklagen wird? Wir kennen hoffentlich noch alle das anklagende Gewissen! Was, wenn Gott nach unserem Tode unser Gewissen wieder richtig kalibriert? Und  es keine Möglichkeit mehr gibt, dem zu entrinnen? Schrecklich! Es ist besser, sich hier schon damit auseinanderzusetzen und die Vergebung von Jesus Christus zu akzeptieren. Das tut weh. Unser Stolz hat das nicht gerne. Aber dieser Stolz ist nur ein Irrwitz! Tatsächlich werden wir nur so glücklich, indem wir uns von Jesus demütigen lassen. Daraus wächst auch eine unglaubliche Freiheit zu seinen Sünden stehen zu lernen, weil sie Jesus vergeben hat. In einem Streit hat mir mal ein Prediger gesagt, ich sei ein Sünder. - Ich war etwas erstaunt. Natürlich bin ich aus mir ein Sünder. Aber sicher nicht, weil ich eine andere Meinung zu einer Investition hatte! Vielleicht habe ich meine Meinung nicht korrekt wiedergeben und dort gesündigt. Vielleicht stimmten meine Motive nicht ganz? Ich bin mir zwar dessen nicht bewusst, aber es ist möglich. Doch ich fragte mich dann auch noch etwas anderes: Ist denn der Prediger nicht auch aus sich ein Sünder? Ist er sich seiner Problematik denn überhaupt bewusst? Ich kann nicht ins Herz von jemand anderem schauen. Das steht mir nicht zu. Ich habe heute noch eine freundschaftliche Beziehung zu diesem Prediger. Aber man fragt sich dann schon, ob in diesem Moment der Prediger in der Gande oder in den eingebildeten absolut guten Werken lebte.

ich schreibe dies nur, um zu zeigen, was für eine Freiheit man bekommt, auch in einem Streit über seine Fehler nachzudenken. In meiner Beziehung mit meiner Frau ist das natürlich noch viel intensiver. Da erkenne ich einiges, was ich besser machen könnte. Hier kommt übrigens auch noch etwas Interessantes: Sich entschuldigen ist Humanistisch. So ähnlich, wie sich selber erretten oder selber verbessern. Biblisch ist, um Vergebung zu bitten. Wenn ich jemanden Unrecht getan habe, bin ich in dessen Schuld. Zudem habe ich mich auch gegen Gott versündigt, der mir deswegen zürnt. Denn mein Nächster ist ein Geschöpft Gottes. Und ein Mensch ist das Ebenbild Gottes, wenn wir auch durch den Sündenfall etwas verbogen sind. Somit schlage ich in Angesichts Gottes, wenn ich einen Menschen ungerecht behandle, ihn beleidige usw. (Das passt auch zu den Aussagen von Jesus, als Mord und das Ausrufen von "Idiot" (oder so ähnlich) vergleicht. Auch das Alte Testament umschreibt, das Unrecht an einem Armen in diesem Sinne.)
Wir sehen, das eben gesagte zu: "Liebe Gott den Herrn der Welt und Deinen Nächsten wie Dich selber." konkretisiert sich hier mächtig.
JEsus Christus ist für meine Sünden am Kreuz gestorben. Darum wird der gerechte Zorn Gottes gegen mich gestielt. Meine Sünde hat Jesus gesühnt. Nun darf mir Gott der Vater vergeben, ohne das er dadurch ungerecht wäre. Die Gerechtigkeit wurde gewahrt, denn in Christus lebe nicht mehr ich, sondern Christus in mir (s. Römerbrief). IN Christus habe ich das Versprechen, dass die Erbsünde und auch jede einzelne Sünde von mir vergeben wird. Wenn ich zu Jesus gehe und um Vergebung bitte, weiss ich, dass Jesus mir vergibt und damit die Tore weit offen stehen, damit ich in Paradies gehen kann. Gott der Allmächtige wird so zu meinem lieben Vater.
Dem Nächsten oder eben im oberen Beispiel meine eigene Frau aber, der sollte ich natürlich nun auch noch um Vergebung bitten. Dabei ist es ihr oder auch meinem Nächsten freigestellt, ob er mir vergeben will. Jesus  empfiehlt es, für das eigene Seelenheil. Ich aber, der Täter, kann das nicht verlangen. Ich darf nur bitten. Da meine Frau mich liebt, vergibt sie mir normalerweise gerne. Damit ist Versöhnung möglich. Bei Jesus ist sie aber sogar garantiert, wenn ich zu Jesus Christus gehe. Das ist ausserordentlich!

Danke Jesus!

Dies alles verbinde ich natürlich auch mit dem Begriff Gott. Und darum sollte er sehr wohl in der Verfassung, wie auch in unserer Hymne bleiben. Man kann es vermutlich noch besser, als in der aktuellen. Aber die Neue, bewusst ohne Gottesbezug, wird dadurch zu einer Luftibus Idee, die nicht den Härten des Lebens stand halten wird. Denn wie soll man sozial solidarisch leben, wenn der Nächste ein Eckel ist? Wie soll ich meinem Miteidgenossen vergeben, wenn er mich verletzt hat? Aber auch wenn alle sehr nett sind: Warum soll ich nicht nur an mich denken? Warum soll ich das Recht halten, auch wenn es es niemand merkt, wenn ich es breche?
Und das ist nun das Grösste: Gott möhte eigentlich, dass wir das Gute und die Gerechtigkeit lieben und darum nach ihr streben, auch wenn wir hier unfähig dazu sind. Gottes Liebe und was er alles für uns tut, sollte uns so bewusst werden, dass wir darum Gott anfangen zu lieben und darum das Gute wollen. Also selbst wenn es keine Strafe gäbe, wollen wir dann noch das Gute. Das ist wahre Freiheit!

Das ist natürlich eine Dimension, die wir nicht mit Gesetzen erreichen können. Darum müssen wir zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit unterscheiden. Das erste ist eine armte Gerechtigkeit, die immer auch Busse braucht. Im Angesicht der göttlichen Gerechtigkeit verdient die menschliche Gerechtigkeit nicht mal das Wort Gerechtigkeit (s. Zwingli).

Auch dies gehört für mich in den Begriff Gott. Diese zweite Dimension, dass wir auch in unserer unperfekten uns nach der perfekten ausstrecken. Idealerweise führt uns das zu einem Leben der Busse und macht uns zu fröhlichen Sündern, wie es Luther sagen würde.

Ich frage mich in diesem Kulturkampf, warum die anderen so Zielstrebig und erfolgreich sein können. Ist den unsere christliche Position heute so schwach besetzt? Ja, wer weiss es denn überhaupt noch? Ja, was wird denn heute überhaupt gepredigt und geschrieben sowie gelesen?

Wo sind die Gemeinden und Kirchen, die ihre Mitglieder zu mündigen Gläubigen fördern, die ihre Gaben zu Hause und im beruflichen Alltag umsetzen? Da gibt es mal einen Neubekehrten bei der Bildzeitung. Es wirft gewaltige Wellen. Aber wo sind denn all die anderen vielen "gewöhnlichen" Wellen. Jene, die einfach treu da sind und die MEnschen wissen, es ist zwar nicht der Zeitgeist, aber wenigstens jemand vertrauenswrüdiger. (Dabei können wir Christen auch etwas ver-rückt wirken, weil wir es auch sind. Wir sind nicht von dieser Welt. Und das christliche Erbe löst sich von Jahr zu Jahr auf. Noch vor wenigen Jahren hat man von einer christlichen Leitkultur reden können. Das ist nun schon passeé. Heute können wir nur noch, das Heidentum in vernünftige Bahnen lenken: d.h. Sicherungen einbinden. Zum Beispiel soll jener der tötet nicht gleichzeitig ein Arzt sein, der Leben erhält. Wir können uns einsetzten, dass die Gewissensfreiheit für Aerzte bleibt und bei Hebammen wieder eingeführt wird. Doch nicht mal das machen wir. ich höre zumindest keinen Beitrag in diese Richtung.
Erst als man aktuell begann kleinere christliche Jugendarbeiten die Bundesgelder zu streichen und dann aus dem Jugend und Sport zu werfen, wachten viele auf. Das war natürlich erst der Anfang. Als nächsten wären dann CVJM und landeskirchliche Jugendarbeiten angegriffen worden. Am liebsten würden gewisse Kreise sowieso die Landeskirchen abschaffen und das gesamte Religiöse in den Privatraum verbannen. Das sie dabei eine Ideologie benötigen, die in die Lücke springen bedenken sie nicht. Und noch weniger, was für Gefahren in einer Ideologie stecken. Und das ist wohl das gefährlichste. Ich habe mal mit einem Ortspräsidenten der SP in einem Jugendchor gesungen. Der sagte mir er sei ein Sozial-DEMOKRAT. Mit Betonung auf Demokrat. Er sei kein Sozialist. Er kannte die Gefahren einer Ideologie. Und diese Gefahr müssen wir nicht nur auf diese politische Bewegung sehen, sondern in allen, ob rechts oder links. Denn seit dem Sündenfall neigen wir Menschen dazu das Gute zu pervertieren. Besonders wirksam wird das Böse, wenn es das Gute pervertieren kann und dabei möglichst viel Gutes bewahrt. Denn das Böse selber ist nur einfach zerstörrerisch und sinnlos bös. In der Bibel heisst es, der Teufel ist der wahre Menschenmörder. Er will einfach unseren Tod. Es ist Gottes Eingreifen, dass das Böse hier auch mal wieder aufhört und beschränkt ist. Das Böse selber wäre unbeschränkt böse. Bei uns Menschen ist es so, dass wir dazu neigen das Gute zu pervertieren. Aber normalerweise möchten wir glauben, dass wir besser sind, als wir sind. Darum versucht man sich anständig und gut zu benehmen. Gefährlich wird es aber, wenn jemand Sünde für etwas Gutes verkaufen will. Da geben wir manchmal gerne nach, damit wir unsere sündhaften Neigungen ausleben können. Es ist besser, wir leben unsere sündhaften Neigung nicht aus. Aber damit sind wir natürlich noch nicht gut. Aber genau das glauben wir! Wenn dann jemand weiss ich was auslebt, zeigen wir noch so gerne mit dem Finger auf ihn und sagen: "Dieser schlechte Kerl!" "Der hat es verdient." und fühlen uns oft dabei viel besser, als dieser offensichtliche Sünder. Aber genau das entlarvt uns als Sünder: Denn ein wirklich guter Mensch, der seinen Nächsten liebt, wäre traurig über das Verhalten des Sünders. Er würde als Erzieher oder Verantwortlicher auch heftig gegen die Sünde einschreiten. Aber er würde für den Sünder beten, dass er erkennt, was er da macht, damit er umkehren kann, d.h. Busse tun, also Reue zeigen und bei Jesus Christus um Vergebung bitten. Auch Gott im Alten Testament sagt, dass er nicht den Tod des Sünders wünscht, sondern das er umkehre und lebe! So anders ist Gott der Vater als der Teufel, der uns nur den Tod wünscht.

Dabei ist der Teufel selber nur ein Geschöpft Gottes. Dieser besonders schöne Lichtengel wollte wie Gott sein und verwickelte isch in ver-rückte Dinge.Ist er eiversüchtig, dass Gott für uns leiblich sterbbaren Menschen gestorben ist?

Darum wählen wir am besten Gott, der das Leben ist. Gott is so komplex, dass man auch von der Dreifaltigkeit oder Dreieinigkeit über ihn spricht, um diese für uns nicht zu fassende Persönlichkeit irgendwie auszudrücken.

Gott segne Sie. Damit meine ich, dass sie das Beste vom Besten erhalten. Das wünsche ich mir auch für unsere Gesellschaft, darum wünsche ich mir den Gottesbezug weiterhin auch in der Landeshymne, aber noch viel mehr in unseren Herzen.

Sonntag, 16. Juli 2017

500 Jahre Reformation - Licht und Schatten

Diesen Beitrag "500 Jahre Reformation – Licht und Schatten" von Prof. em. Dr. Armin Sierszyn hat mich beeindruckt. Sierszyn war reformiert-evangelischer Pfarrer und Dekan sowie Professor an der STH in Basel. Sein Beitrag wurde als theologische Beilage in der STH Perspektiven im Februar 2017 veröffentlicht. Es gehört zum Thema der 500 Jahr-Feier der Reformation. 
Der Beitrag hat mich tief beeindruckt und sollte uns alle zum Denken und Beten anregen.


„Das Salz der Erde

Jesus sendet seine Jünger hinaus in alle Welt: «Geht, verkündet das Evangelium aller Kreatur! Ihr seid das Licht der Welt! Ihr seid das Salz der Erde; wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Menschen zertreten» (Matth 5,13). Vermutlich erleben wir genau dies in unseren Tagen. Die ganze Welt, auch die westliche, erfährt einen tiefgreifenden Umbruch. Die alten Rezepte der intellektuellen Eliten sind verbraucht. Auch die europäische Kirche, soweit sie dem Mainstream nachläuft, wird verachtet und zertreten – nicht zuletzt von den Füssen derer, die sie in Scharen verlassen. Die protestantische Kirche, einst berufen, Salz und Licht zu sein, weiss oft selbst nicht mehr, wer sie ist und was sie soll. Sie wirkt müde und sorgt sich vor allem ums eigene Überleben. Die Zürcher Landeskirche zum Beispiel diskutiert ein ganzes Jahrzehnt über Geld, Stellenprozente und eigene Strukturen.

I.                    Martin Luther, Reformator der ersten Stunde
Um das Jahr 1500 ist die Kirche verbandelt mit Geld, Ungeist und Politik. Seit dem 13./14. Jahrhundert steigt die Katholische Kirche auf zur ersten Finanzmacht Europas (Papsttum in Avignon). Die ganze Armutsbewegung ist ein mächtiger Protest gegen diesen Irrweg. Im Jahr 1500 regiert in Rom der Renaissance-Papst Alexander VI. Mit seinen Maitressen zeugt er eine ganze Reihe unehelicher Kinder, die er mit Ländereien und Fürstentümern beschenkt. Von ihren Schäfchen verlangt die gleiche Kirche gute Moral oder wenigstens den Loskauf von Sünden- und Fegefeuer-Strafen durch kaufbaren Ablass. Für etwa einen Monatslohn kann sich jedermann von aller Sünden- und Todespein loskaufen nach dem Motto: «Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt». Gegen diese heuchlerischen Missbräuche wendet sich der Augustinermönch und Doktor der Theologie Martin Luther in Wittenberg. Dieser Ort, heute eine Autostunde vor Berlin gelegen, ist damals ein 2000-Seelen-Städtchen am nordöstlichen Rand der deutschen Zivilisation. In der Bibel belesen und an Augustin geschult, bricht Martin Luther durch zu einer damals neuen und revolutionären Entdeckung: Kein Mensch kann vor Gott bestehen, geschweige denn sich freikaufen. Alle sind wir verloren. Alle. Im Römerbrief von Paulus entdeckt Luther die reformatorische Botschaft, die ihn zu den Pforten des Paradieses führt: Was kein Mensch vermag – das tat der lebendige Gott: Er sandte seinen Sohn. Jesus Christus starb am Kreuz und zahlte ein für alle Mal unsere Rechnungen – nicht mit Silber oder Gold, sondern mit dem eigenen Blut! Dies alles tat und schenkt uns Gott ohne Bedingungen – aus unergründlicher Liebe. Wer dieser Botschaft der Heiligen Schrift vertraut, ist für Zeit und Ewigkeit gerettet. Nichts kann ihn scheiden von der Liebe Gottes; der Glaube an Christus ist der feste Anker mitten im Sturm und Untergang. Am Samstag vor Allerheiligen, am 31. Oktober 1517, schlägt Luther 95 lateinisch geschriebene Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. Zu Luthers eigener Überraschung entfalten diese Thesen eine ungeheure öffentliche Wirkung. These 1 lautet: «Da unser Herr und Meister spricht: Tut Busse, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Busse sei…». These 21: «Es irren alle Ablassprediger, die sagen, durch den Ablass des Papstes werde der Mensch frei von aller Strafe und selig…». Der Papst, so Luther weiter, soll eine Peterskirche lieber mit seinem eigenen Geld, nicht mit dem der armen Gläubigen bauen.1 Luthers Thesen verbreiten sich durch ganz Deutschland. Noch vor dem Jahresende werden sie in Basel gelesen. Luthers Thesenanschlag gilt gemeinhin als das Stichdatum für den Beginn der Reformation, und der 31. Oktober 1517 als der Tag, an dem das tausendjährige Mittelalter endet.

Die deutsche Lutherbibel
Allein aus dem Wort Gottes wird die christliche Gemeinde geboren.
Allein aus dem Wort Gottes erwächst den Predigern Weisheit und Kraft.
Allein das Wort Gottes richtet, rettet und trägt die Welt.

Zur Reformation gehört zuerst und zuletzt die Bibel. Im Jahr 1500 lesen nicht einmal alle Priester in der Heiligen Schrift. Martin Luther übersetzt die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments in die deutsche Sprache. Luthers Sprachgewalt und (1 Vgl. Luther Deutsch, Hg. K. Aland, II (3.A.1991), 32ff; A. Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte (3.A.2015), 420– 423.)
 (2 Theologische Beilage zur STHPerspektive Februar 2017)
 Sprachtalent sind einmalig und bis heute unerreicht. Luthers deutsche Bibel schlägt buchstäblich ein. Die neue Bibel wird zunächst besonders von der protestantischen Elite rasch und gern gelesen. Der Reformator dolmetscht seinen lieben Deutschen Gottes Wort geradezu ins Herz hinein. So wird die Lutherbibel zur Grundlage für die neuhochdeutsche Sprache. Ohne die Lutherbibel gä- be es weder Goethe noch Schiller. Vor allem aber wird die Lutherbibel zur Mutter der evangelischlutherischen Kirche. Luther sucht in der Bibel immer die Mitte, nämlich Jesus – und zwar den Gekreuzigten. Nicht auf hohe Worte menschlicher Weisheit, auch nicht auf fromme oder überschwängliche Erlebnisse will er sich verlassen, sondern allein auf das Wort vom Kreuz (1. Kor 1,18ff), das alles menschliche Rühmen zunichtemacht.

Reformation – die Mutter der Volksschule

 Weil das Wort Gottes eine so hohe und zentrale Bedeutung für das ganze Leben hat, wird die Reformation auch zur Mutter der Volksschule, und diese zu einem zentralen Institut in den evangelischen Städten, Ländern und Dörfern. «Läsen, Schriben, Bäten» sind die Kernkompetenzen, welche die Schule auch in der protestantischen Schweiz vermitteln soll. Denn Menschen, die selber in der Bibel lesen können, werden befähigt, Gott zu begegnen und sein Wort zu vernehmen. Wer die Bibel liest, findet Rettung und Hoffnung, aber auch geistiges Profil. So werden Bibel und Bildung zur Quelle für geistiges Humankapital in den protestantischen Ländern Europas und später der USA.

Luther in Worms (1521)

Martin Luther rüttelt an einer korrumpierten Kirche und Gesellschaft unter dem Einsatz seines Lebens. Weil er die Tabus der Mächtigen berührt, droht ihm der Scheiterhaufen. Hundert Jahre zuvor, am 6. Juli 1415, bezahlte Johannes Hus auf dem Konstanzer Konzil für seinen Einsatz zugunsten einer Reform der Kirche mit dem Leben. Seine Asche wurde in den Rhein gestreut, obwohl Kaiser Sigismund ihm sicheres Geleit versprochen hatte. Am 18. April 1521 soll Luther in Worms vor Kaiser, Fürsten und Stadträten aussagen. Vor den höchsten Instanzen des Reichs erklärt der bereits Ge- ächtete an diesem denkwürdigen Tag: «Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort, darum kann und will ich nichts widerrufen».2 Luther weiss: Auch in Worms könnte man Ketzerasche in den Rhein streuen. Trotzdem bleibt der Reformator fest. Der 18. April 1521 gilt in der europäischen Geschichte zu Recht als ein bedeutender Tag. Da steht ein einzelner Mensch vor den höchsten politischen Instanzen und beruft sich rückhaltlos auf Gottes Wort und sein Gewissen. Natürlich hat er dies alles aus der Bibel gelernt (vgl. Röm 13,5; 1. Tim 1,19). Für die europäische Geschichte der frü- hen Neuzeit ist es ein starkes Signal, dass sich ein Mensch auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit beruft. Hier stösst Luther ein Tor auf, das vom Mittelalter in die Neuzeit führt. Um Luther vor der kaiserlichen Rache nach Ablauf der zugesagten Schutzfrist zu beschirmen, entführen und verbergen ihn einige Freunde auf der tief im Thüringer Wald gelegenen Wartburg.

Luthers Septemberbibel (1522)

In der Stille der Wartburg, hoch über ausgedehnten Wäldern, übersetzt Martin Luther in der kurzen Zeit von nur elf Wochen das Neue Testament in die deutsche Sprache. Luthers Neues Testament, das im September 1522 in Wittenberg in der hohen Auflage von 3000 Exemplaren erscheint (auch Septemberbibel genannt), ist das wichtigste Dokument seiner Theologie. Die ganze Bibel erscheint 1534 in deutscher Sprache. Luthers Schriften und Handzettel flattern in Windeseile in aller Herren Länder. Auch in Basel werden die Schriften des Reformators gedruckt. Die Reformation wird eine «internationale» Bewegung.

SOLA SCRIPTURA = Allein die Schrift
SOLUS CHRISTUS = Allein Christus
SOLA GRATIA = Allein durch die Gnade
SOLA FIDE = Allein durch den Glauben Martin Luther 3 Die verschiedenen Abendmahlslehren:


II.                  Ulrich Zwingli und die Zürcher Reformation

Auch in Zürich fällt der Same der Reformation auf guten Boden. 1518 wird Ulrich Zwingli von Wildhaus, Pfarrer in Einsiedeln, als Leutpriester ans Grossmünster gerufen. Hier soll er den Leuten predigen. Zwingli beginnt seine Arbeit am Neujahrstag 1519 mit einer Auslegung des Matthäusevangeliums. Auch in der Zürcher Reformation (2 Vgl. den Bericht über Luthers Auftritt vor dem Reichstag am 17./18. April 1521 in: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Hg. H. A. Oberman, II (3.A.1988) Nr. 31, S. 58–61.)
spielt die Bibel die grundlegende und entscheidende Rolle. Zwingli und sein Freund Leo Jud übersetzen die Bibel in Windeseile aus dem Hebräischen und Griechischen in die deutsche Sprache. 1531 erscheint die erste Froschauer-Bibel. Den Dominikanerinnen im Kloster Ötenbach ruft Zwingli zu: «Eher verlässt die Natur ihren Lauf, als dass das Wort Gottes nicht erfüllt werde!» Und in seinen Schlussreden (1523) schreibt der Reformator: «Die Heilige Schrift muss mein und aller Menschen Richter sein; es darf aber nicht der Mensch Richter über das Wort Gottes sein.» Auch Zwingli rüttelt an Tabus der Zeit. In der Fastenzeit des Jahres 1522 nimmt er teil an einem (öffentlich verbotenen) Wurstessen. Als der Duft der heissen Würste das Haus von Druckermeister Froschauer erfüllt und alle (ausser Zwingli) zugreifen, öffnet die illustre Runde das Fenster, damit die Stadtbewohner in den Gassen merken, was geschieht. Ein Sturm der Entrüstung erfasst die Altgläubigen, Zwingli aber predigt weiter das Wort Gottes.

Zürcher Disputationen: Die Kirche wird aus Gottes Wort geboren

Die Disputationen sind eine Besonderheit der Zürcher Reformation. Als die Wogen der Emotionen hochgehen, erlässt der Rat Vernehmlassungen. Die Zürcher Kirchgemeinden dürfen sich durch Delegationen «vernehmen lassen». Dabei bedient man sich nicht der Gelehrtensprache Latein, sondern der alemannischen Dialektsprache des Volkes. Alle Gläubigen sind mündig (allgemeines Priestertum)! Dabei geht es um die Frage: Welches ist die rechte Kirche? Bis zu 600 Männer diskutieren mit Zwingli und seinen Freunden im alten Rathaus. Als Richtschnur gilt allein die Bibel. Auch die Regierung schützt diesen Standpunkt gegen- über Generalvikar Johann Faber aus Konstanz. Humanistische Freunde von Zwingli vertreten allmählich eine radikale Form der Reformation. Mitglied der Kirche, sagen sie, könne nur sein, wer bekehrt und gläubig getauft sei. Zwingli ahnt, dass ein radikaler Weg die Zürcher Reformation in Blut und Tränen ersticken müsste. 1523 stehen Zwingli und der Rat von Zürich noch allein innerhalb der Eidgenossenschaft. Die Miteidgenossen würden die Limmatstadt mit Gewalt rekatholisieren. Aber auch theologisch trennt sich hier Zwinglis Weg von den Täufern. Mit Augustin unterscheidet er die sichtbare und die unsichtbare Kirche. Nicht alle Glieder der sichtbaren Kirche sind wahrhaft gläubig, und auch unter den scheinbar Frommen gibt es Heuchler. Darum ist die wahre Kirche Jesu Christi unsichtbar. Nur Gott kennt die Seinen. Demgemäss kann Zwingli kurz und bündig formulieren: «Welches ist Christi Kilch? Die sin Wort hört. Wo ist die Kilch? Durch das ganze Erdrich hin. Wer ist sie? Alle Gleubigen. Wer kennt sie? Gott.»3 Auch die 1. Berner These von 1528, von Zwingli beeinflusst, formuliert klassisch reformatorisch: «Die heilig christenlich kilch, deren einig houpt Christus ist, ist us dem wort gots geboren …»4

Das erste Nachtmahl am Ostertag 1525 im Grossmünster

Am Hohen Donnerstag, am Karfreitag und am Ostertag 1525 wird im Zürcher Grossmünster das erste evangelische Abendmahl gefeiert. Gegen- über der katholischen Messe wird das Mahl betont schlicht und biblisch-nüchtern gefeiert. «Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten wurde, nahm das Brot …» Die Gottesdienstteilnehmer empfangen ungesäuertes Brot (Oblaten) aus einer hölzernen Schale und Wein aus hölzernen Kelchen. Anders als Luther5 deutet Zwingli Brot und Wein symbolisch: «das bedeutet mein Leib, das bedeutet mein Blut» usw. Diese Deutung Zwinglis hat sich in verschiedenen Freikirchen, nicht aber in den reformierten Kirchen durchgesetzt. Hier gilt das Verständnis von Johannes Calvin: Leib und Blut des erhöhten Christus sind durch den Heiligen Geist gegenwärtig und werden mit dem Herzen geistlich empfangen. Goldene Geräte und silberne Kelche haben keinen Platz. Auch schöne Kantaten und berührende Musik stehen im Weg, wenn Gott spricht. Zwingli und später auch Calvin vertreten eine puritanische Frömmigkeit. Was nicht ausdrücklich im Wort Gottes geschrieben steht, selbst Orgeln, soll keinen Platz im Gottesdienst haben.

3 Zitat bei R. Reich, Zwingli gründete keine neue Kirche, Kirchenbote des Kantons Zürich, 21.12.2007; Z III, 223,6–7.
4 Steck/Tobler, Aktensammlung Berner Reformation I (1923), 521.
5 Die verschiedenen Abendmahlslehren: Katholisch: Brot und Wein verwandeln sich im Geheimnis der Eucharistie zu Leib und Blut Christi (Transsubstantiation). Luther: Brot und Wein ändern sich nicht, aber der allgegenwärtige Christus kommt mit seinem «durchgötterten» Fleisch und Blut zu Wein und Brot hinzu (Konsubstantiation). Zwingli: Brot und Wein bedeuten Christi Leib und Blut (symbolische Auffassung). Das Abendmahl ist eine Erinnerungsfeier an Christi Tod und Auferstehung. Calvin: In Brot und Wein geniesst die gläubige Seele Christi Leib und Blut durch den Heiligen Geist; der Ungläubige aber empfängt nur irdisch Brot und Wein (geistlicher Genuss; geistlich ist mehr als geistig).

Zwingli, ein politischer Reformator

Zwingli stammt aus einer politischen Familie; sein Vater war Gemeindepräsident von Wildhaus. Zwingli ist in seinem ganzen Naturell ein draufgängerischer und auch ein politischer Reformator. Reformation bedeutet für ihn zugleich Neuordnung der Gesellschaft im Gehorsam gegenüber Gottes Wort. Neben der göttlichen gibt es auch eine elementare menschliche Gerechtigkeit zum Beispiel «du sollst nicht stehlen». Zur menschlichen Gerechtigkeit gehören auch Privateigentum, Kapital und Grundzinsen. Es ist die Aufgabe der Regierung, die menschliche Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie soll dafür sorgen, dass die «stossenden Widder die blöden schäfli» nicht umbringen. Der Rat verbietet die bisherigen Wucherzinsen (teils 25-50 %), gestattet aber Maximalzinsen bis 5 %.

Benedikt von Nursia schenkte dem Benediktinerorden schon im Frühmittelalter das Motto «Bete und arbeite». Auch für Zwingli ist die Arbeit nicht Last, sondern Gottesdienst und Ausdruck des Glaubens. Nicht nur der melkende Bauer oder die Magd hinter der Mühle, auch die Arbeit in Handel, Gewerbe, Handwerk, Regieren und Unterrichten werden positiv gewertet. Der Bettel, der seit dem Spätmittelalter das Stadtbild zeichnete, wird verboten. Fleiss, Sparsamkeit, getreue Geschäftsführung sind Teil des Gottesdienstes. Dank des neuen Arbeitsethos blüht die Stadt auf. Im Jahrzehnt 1540/50 wächst der Stadt ein Kapital von 100 000 Pfund zu, das die Regierung für Gebietserweiterungen einsetzt. Diese neue Glaubensart bezeichnet man als Puritanismus (purus = rein), d. h. Glaube und Leben im reformierten Zürich sind «gereinigt» von unbiblischen Zutaten. Diese Tendenz wird sich im Calvinismus eher noch verstärken.

Zürcher Reformation und soziale Reform

Die vom Staat konfiszierten Klostergüter dienen als Grundlage zur staatlichen Fürsorge. Bei der Predigerkirche errichtet der Rat einen «Mushafen» (wörtl. Breitopf) zur Ernährung der Armen. Das Mittelalter duldete die Bettelei, interpretierte sie gar positiv: Im Bettler begegnet uns der arme Jesus, wir sollen ihm helfen. Zugang zum Mushafen haben jetzt nur noch unverschuldet Arme und Arbeitsunfähige, d. h. Kranke, Alte, arme Kinder, aber auch Studenten. Faulpelze und Arbeitsscheue gehen leer aus.

III.                Johannes Calvin und die Genfer Reformation

Johannes Calvin gehört zur zweiten Reformatoren-Generation. Geboren 1509, ist Calvin 25 Jahre jünger als Luther und Zwingli. Calvin ist Nordfranzose, Schüler Luthers, Humanist, promovierter Jurist, meistgelesener Autor des 16. Jahrhunderts. Calvin ist der körperlich schwächste, in seiner Wirkung aber der stärkste aller Reformatoren. 4300 erhaltene Briefe zeugen von seiner europäischen Vernetzung. Calvin gilt als Ökumeniker unter den Reformatoren. Mit Melanchthon, Bucer und katholischen Theologen sucht er in Worms und Regensburg ernsthaft nach Wegen, die Glaubensspaltung zu überwinden. Calvin ist indes nicht nur ein kirchlicher Reformator, sondern auch ein scharfsinniger Intellektueller, dessen Wirkungen die ganze westliche Welt bis heute prägen. Der Franzose Calvin – nicht Luther – hat die Reformation weltläufig gemacht. Calvin gründet in Genf die Akademie. Durch diese Kaderschmiede gehen hunderte, ja tausende Glaubensflüchtlinge, die unter dem Schutz des starken Bern von Calvin gelehrt, geprägt und profiliert werden. Der Schotte John Knox, als Glaubensflüchtling den französischen Galeeren entronnen, empfängt in Genf sein Profil. Er soll die Calvinstadt mit dem Gebet verlassen haben: «Herr, gib mir Schottland oder ich sterbe!» Schottland fällt ihm zu. Frankreich zählt damals ca. 15 Mio. Einwohner, etwa eine Million – ein Grossteil des Adels und der Gebildeten – öffnen sich dem Calvinismus (Hugenotten). So entsteht ein entschlossener, kämpferischer und am Bibelwort profilierter Protestantismus in Frankreich, Holland, England, Ungarn, aber auch in der Schweiz. Genf wird das protestantische Rom genannt. Als die Kräfte des Luthertums erschlaffen und die katholische Kirche zum Gegenschlag ausholt, ist es der calvinistische Protestantismus, den Gott gebraucht, um die Reformation zu retten.

Kirche mit flacher Hierarchie

Calvins Kirchenverständnis ist für die damalige Zeit einmalig, ja, eine Pioniertat. Die Kirche Calvins kennt weder Bischöfe noch Prälaten. Sie wird gemeinsam geleitet durch vier Ämter, die er dem Neuen Testament entnimmt: Presbyter, Pastoren, Lehrer und Diakone (vgl. Eph 4,11). Dadurch entsteht eine neue Kirche mit flacher Hierarchie. In Calvins Glaubenslehre (Institutio) wie im Bekenntnis der hugenottischen Nationalsynode von Paris in Genf (1559) erscheint ein prägender Satz, den man sonst im 16. Jh. kaum findet: «Niemand ergreife ein Amt, er sei denn von der Gemeinde dazu erwählt».6 Dieser Satz, den Calvin «aus Gottes Wort entnimmt»7 , ist ein früher Same für die spätere europäische Demokratie. 1559 beschliesst die Nationalsynode in Paris das weitgehend von Calvin verfasste Gallikanische Bekenntnis. Die (operative) Leitung der 50 Gemeinden wird ergänzt durch die (gesetzgebende) Synode. Die Zürcher Kirche kennt dieses System schon seit 1531. Durch die starke Ausbreitung der presbyterianischen Kirche wird Calvin geschichtlich zum Schöpfer der westlichen Gewaltentrennung.8 Auf dem Weg über calvinistische Siedler und durch den englischen Presbyterianer John Locke wird Calvins zweistufiges Kirchenmodell zum Vorbild für die moderne amerikanische Verfassung im 18. Jahrhundert (Gewaltentrennung). Im Calvinismus schlummert grundsätzlich eine demokratisierende Sprengkraft, welche ab 1580 in Holland gegen die spanische Krone aufscheint9 und im 17. Jahrhundert die englische Revolution und die erste parlamentarische Demokratie der Welt mit heraufführt (1689 Bill of Rights).

Die weltgeschichtliche Bedeutung des calvinistischen Puritanismus

Die Genfer Reformation empfängt durch Johannes Calvin puritanische Akzente, wie sie uns schon bei Zwingli begegnen. Mehr noch, das Glaubensleben des Genfer Reformators selbst ist nicht ohne asketische Züge. Der Vielbeschäftigte ist oft so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er zu essen vergisst, was seiner Gesundheit nicht zuträglich ist. Calvin kann mit Paulus sagen: «Ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde» (1.Kor 9,27).

6 Calvin, Institutio (1559) IV,3.5; Confessio Gallicana (1559) Art. 30, in: Bekenntnisse der Kirche, Hg. H. Steubing (1985), 131. 7 Calvin, Institutio IV, 3.5 8 Die Kirche von Genf bedarf noch keiner Synode, dafür ist sie geographisch zu klein. Eine erste calvinistische Nationalsynode tritt 1559 in Paris zusammen zur Statuierung der Confessio Gallicana (Hugenotten-Bekenntnis), die in ihrem Kern auf Calvin zurückgeht. 9 «Ein Volk ist nicht wegen des Fürsten da, sondern ein Fürst um des Volkes willen geschaffen, denn ohne das Volk wäre er kein Fürst» (Unabhängigkeitserklärung der calvinistischen Niederlande am 26.7.1581). Calvin lehrt ein Widerstandsrecht der Etats généraux (Generalstände: Klerus, Adel, Dritter Stand = freie Bauern & Bürger). Kriegerische Volkshaufen können sich nicht auf Calvin berufen. Vgl. KThGQ III, Hg. H. Obermann (3.A.1988), 249f. (Predigt über 2. Sam. 5,4, ca. 1563).

So lebt Calvin in Genf und bezwingt in grosser Schwachheit seine starken libertinischen Gegner in den Räten.10 Wer Calvin deshalb Gesetzlichkeit vorwirft, hat ihn nicht verstanden. Dieser Reformator lehrt nicht nur die evangelische Kreuzestheologie, er lebt sie auch wie kaum ein Zweiter. Deshalb ist ihm bei allen Fehlern, die ihm unterlaufen, eine Vollmacht und Geistesgegenwart gegeben, die ihresgleichen sucht. Selbst im Geheimen Rat des französischen Königs werden seine Briefe mit grösstem Respekt studiert!

Im Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts verstärken sich puritanische Züge weiter, die schon bei Calvin angelegt sind. Der Calvinist distanziert sich vom Treiben dieser Welt. Tanzbelustigungen, Karneval, weltliches Spiel und Theater sind ihm ein Gräuel. Er lebt sparsam, bescheiden und solid, während der Woche ist er äusserst arbeitsam und fleissig zur Ehre Gottes, er achtet den Feiertag und sorgt für seine Familie.

Es versteht sich von selbst, dass puritanische Lebensweise normalerweise nicht in Liederlichkeit und Armut führt, im Gegenteil. Reichtum gilt im Calvinismus nicht als Sünde; auch Abraham war «sehr reich an Vieh, Silber und Gold» (1. Mose 13,2), weil Gott ihn segnete. Schon Zwingli11 schreibt, dass Busse und lauteres Leben ein Zeichen der Erwählung sei. Später glauben die Calvinisten, ehrlich erworbener Reichtum sei für Gläubige ein Zeichen der persönlichen Gnade und Erwählung. Die Gewissheit der Erwählung aber ist die stärkste Motivation, die ein Mensch bekommen kann. «Gnade und Erwählung sind das Geheimnis und das Wesen der Geschichte», schreibt der Kulturphilosoph Ernst Troeltsch.12 Kein Geringerer als Max Weber hat schon vor 100 Jahren darauf hingewiesen, dass die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen gedeihlichen Staat mit florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus mit seiner «innerweltlichen Askese» der


10 Vgl. A. Sierszyn, Mein Herz dem Herrn zum Opfer (2015), 31–42.
11 Zwingli schreibt in seiner «Vorsehung»: «Es gibt viele Erwachsene, von denen wir nicht wahrnehmen, dass sie verworfen sind, bis sie das durch schlechtes Handeln selbst verraten. Und umgekehrt gibt es viele, die, auch wenn sie eine Zeit lang verbrecherisch gelebt haben, doch wieder auf den rechten Weg zurückkehren und durch Busse und lauteres Leben zeigen, dass sie vom Herrn erwählt sind.» Vgl. E. Künzli, Huldrych Zwingli. Auswahl seiner Schriften (1962), 293.
12 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922), 101.

Die Kirche, die aus der Genfer Reformation hervorgeht, wird gemeinschaftlich geleitet und kennt weder Bischöfe noch Prälaten (flache Hierarchie): 1. Älteste (Presbyter, heute Kirchenpflege) 2. Hirten (Pastoren) 3. Lehrer (Docteurs) 4. Diakone Johannes Calvin 6 Reformation als individualisierende Glaubensbewegung, die eine Pluralisierung der Religionskultur ermöglicht

 eigentliche Motor für den Aufstieg des Westens und des Kapitalismus gewesen ist.13 In der Tat sind Leistung, Bildung und Wissen (Lesen!) im calvinistischen Protestantismus überaus positiv besetzt. So entsteht in protestantischen Gebieten schon früh ein geistiges Humankapital, das Seinesgleichen sucht. In Genf selbst begründen Calvinisten die Uhren- und Textilindustrie, später auch den Bankenplatz; ebenso pflegen sie wachsame Beziehungen zum Rohstoffhandel. Der Genfer Wirtschaftsprofessor Peter Tschopp bezeichnet den Genfer Bankenplatz als «Spätgeburt des Calvinismus».14 Der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann erinnert sich: Noch in den 1950er Jahren war «bei der Landis & Gyr das gesamte obere Kader mit Protestanten besetzt. Die Arbeiter hingegen waren katholisch. Der Katholizismus hatte … gegen die protestantische Leistungsethik keine Chance».15

Der Westen und der Rest der Welt

Ums Jahr 1500 kann der monolithische Machtblock China als Nabel der Welt bezeichnet werden. Schon als Europa im Mittelalter noch dahindämmert, erfinden die Chinesen im 11. Jahrhundert die mechanische Uhr, es folgen die Druckerpresse, das Schiesspulver, das Papier, die Sämaschine, der Kompass, die Karette und selbst ein kleines Gerät wie die Zahnbürste. China besitzt im Mittelalter eine hochseetüchtige Kriegsflotte, deren Riesenschiffe im 15. Jahrhundert die Ostküste Afrikas anfahren. Um das Jahr 1500 denkt niemand an eine Weltherrschaft des kleinen Europa. Und doch steigt England im 17. Jahrhundert auf zur ersten Seemacht der Welt. Während China an seiner Selbstzufriedenheit und Unbeweglichkeit zerfällt, erlebt England eine (calvinistische) Revolution und wird 1689 zur weltweit ersten parlamentarischen Demokratie. Demokratie und Freiheit aber schaffen Raum für Eigentum, Forschung, Innovation und Wettbewerb. 2013 publizierte Niall Ferguson, weltberühmter Historiker von Harvard und Oxford, ein Buch mit dem Titel «Der Westen und der Rest der Welt».16 Auch Ferguson sieht in der calvinistischen Arbeitsethik den entscheidenden Nährboden und Motor für den unerwarteten demokratischen, industriellen und militärischen Aufstieg des Westens. Die Stärke des (calvinistischen) Protestantismus als Nährboden der Kultur hat den schnellen Aufstieg des kleinen Europa zum Vorort der Welt wesentlich mitermöglicht. Als England und der Kontinent im 20. Jahrhundert ihren Zenit hinter sich lassen, erreichen die protestantischen USA (u. a. dank immer neuer Erweckungen bis in die 1950er Jahre) ihre volle geistige Kraft. Erst ab den 1960er Jahren beginnt mit den Stössen säkularer Kulturrevolution hüben und drüben der kirchliche Abstieg, was die Statistiken deutlich zeigen. Diesem Abstieg folgt der kulturelle und politische Niedergang auf dem Fuss.

13 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1920, 2015).
14 P. Tschopp, in: Zeitung «reformiert.» Vom 31.10.2008.
15 Th. Hürlimann, in: Der Tagesanzeiger vom 30.6.2011. 16 Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen (2.A.2014).

Max Weber hat schon vor 100 Jahren darauf hingewiesen, dass die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen gedeihlichen Staat mit florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus mit seiner «innerweltlichen Askese» der eigentliche Motor für den Aufstieg des Westens und des Kapitalismus gewesen ist.


IV.                Schatten des Protestantismus

Dreierlei Schatten oder Defizite des Protestantismus sollen in aller Kürze dargelegt werden.

1. Spaltung
Mit der Reformation ist eine nachhaltige und bis heute nicht geheilte Spaltung, ja, eine Zerklüftung, in die abendländische Christenheit eingedrungen. Selbstverständlich gab es in der Christenheit längst vor der Reformation ungezählte Kirchenspaltungen. Bereits im 11. Jahrhundert trennen sich die morgenländische und die abendländische Kirche nicht im Frieden. Die Bewegungen der englischen Wycliffiten, der tschechischen Hussiten und der Waldenser konnten im Spätmittelalter nur durch staatliche Gewalt unterdrückt werden. Die Ketzerverfolgungen sind ein Jahrhunderte altes, düsteres Kapitel der Kirchengeschichte. Insofern ist die Reformation wieder positiv einzustufen, weil sie als individualisierende Glaubensbewegung eben auch eine Pluralisierung der Religionskultur ermöglichte, die der Pietismus im 18. Jahrhundert noch verstärkte. Hier liegen Ansätze (auch in Deutschland) zur späteren Toleranz und Glaubensfreiheit.

2. Religionskriege
Eine schwerwiegende Folge von Reformation und Gegenreformation sind die zahllosen europäischen Religionskriege, von denen der Dreissigjährige Krieg (1618–1648) mit seinem ganzen Jammer, mit Pestseuchen und sozialem Elend der schrecklichste ist. In ihrer grössten Not und Ausweglosigkeit stossen die Menschen in ihrer Verzweiflung auf die Gesundheit des Teufels an. Es sind nicht die Gottlosesten, sondern oft die Klugen und Wachsamen, die ob all den Schrecken, den die Glaubenskriege auslösten, an der Bibel und am Christentum irregeworden sind. Die Religionskriege sind die tiefste Quelle für die Entstehung des abendländischen Skeptizismus und Atheismus. Mit Händen greifen lässt sich diese Entwicklung in Frankreich, das am Ende des 18. Jahrhunderts geistlich ausgeblutet ist. Auch hier kann die Schuld nicht primär der Reformation zugewiesen werden; es sind in erster Linie die Verhärtungen des konfessionellen Zeitalters, die hüben und drü- ben zu schwersten Verwerfungen geführt haben.

3. Bibelkritik
Der dritte Schatten hängt mit dem zweiten zusammen und betrifft den Neuprotestantismus ungleich stärker als die Katholische Kirche. Der neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem Skeptizismus. Statt an Gott glauben die Europäer mehr und mehr lieber an sich selbst. Aus dem individualisierten Glauben bei Luther entwickelt sich ein schrankenloser säkularer Individualismus, sprich Egoismus.

7 Der neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem Skeptizismus. Statt an Gott glauben die Europäer mehr und mehr lieber an sich selbst. Aus dem individualisierten Glauben bei Luther entwickelt sich ein schrankenloser säkularer Individualismus, sprich Egoismus.

 Statt dem Evangelium Vertrauen zu schenken, erwächst als neuprotestantisches Gewächs eine am naturwissenschaftlichen Methoden-Ideal orientierte Bibelkritik. Der europäische (protestantische) Mensch erhebt sich über alles und lebt mehr oder weniger, als ob es Gott nicht gäbe. Mit dem Verlust des Gotteswortes sterben die europäischen Kirchen. Der Neuprotestantismus verliert seine Salzkraft für die Gesellschaft, weil er nur noch nachzusprechen vermag, was trendige Medien ohnehin schon vermelden. So wird das 500-Jahr-Jubiläum zur verordneten Feier einer verhaltenen Verlegenheit. Weniger verlegen sind Stimmen, die 2011 nach einem ausgelassenen Pride-Festival vermelden, dass durch diesen Grossanlass Zürich wieder etwas weniger zwinglianisch geworden sei.17 Vor allem seit den 1960-er Jahren – in Deutschland schon früher – beginnt die innere Kraft des Westens (zunächst kaum spürbar) zu sinken. Der Protestantismus ist daran, seine eigenen Erfolge zu zerstören. Sterben heute in Europa die Kirchen, so wird morgen der ganze Kontinent in den Untergang hineingezogen. Denn Europa ist durch das Wort der Bibel geworden, es könnte den Verlust dieser Botschaft auf die Dauer nicht überleben. Papst Johannes Paul II. hat schon 1990 zu einer Neu-Evangelisierung Europas aufgerufen. Hatte er nicht Recht? Der Neuprotestantismus schüttelte darüber verständnislos den Kopf. Seither hat der Zeitgeist unsere Jugend weiter nach seinem Bilde geformt, unsere Medien geleitet, zwischen Männern und Frauen einen Klassenkampf entfesselt, Millionen von Kindern die Geburt verweigert, Kindern ihre Mütter und Väter entzogen und Heranwachsenden die Findung ihrer Identität erschwert. Europa – einst der Vorort der Welt – ist zum Spielball der Mächte geworden. Der Kontinent wirkt alt und müde. Europa hat seine Sendung verraten, weil es (durch den Neuprotestantismus) selbst verraten wurde. Statt der Stimme des guten Hirten zu vertrauen, folgte es abgehobenen, irrealen Ideologien und Kulturidealen (Idealismus, Sozialismen, Feminismus, Multikulturalismus und Genderismus). Die protestantischen Eliten sind dabei besonders selbstbewusst vorangegangen.18 Das ist ein tiefer Schatten des Protestantismus – und eine Schuld gegenüber Gottes Wort und dem ganzen Kontinent.19


17 «Dank euch ist Zürich weniger zwinglianisch», in: NZZ vom 18.6.2011. Im Unterschied zur Kirche weiss man, dass ein Kulturkampf im Gange ist.

Schlussgedanken
Durch die Reformation hat Gott besonders die Völker des europäischen Nordens und des Westens, allen voran Deutschland und die Schweiz, gerufen und gesegnet. Weshalb der Reformation im 16. Jahrhundert kein völliger Durchbruch und Aufbruch in Kirche, Kultur und Politik beschieden war, bleibt Gottes Geheimnis. Wenn wir als evangelische Kirchen, welcher Couleur auch immer, feierlich der Reformation gedenken, so tun wir dies mit grossem Dank und mit Freude. Denn die Reformation hat uns Menschen das helle Licht des Wortes Gottes, die Freude der Heilsgewissheit und den letzten Trost wieder frei zugänglich gemacht. Auch die im Westen erkämpfte Demokratie, die Wissenschaften und die Industrialisierung (Wohlstand) sind ohne die Grundlage vor allem der calvinistischen Reformation undenkbar.

18 1950 stellt Gerhard Ebeling fest: «Es ist der erstaunlichste Vorgang der Theologiegeschichte der Neuzeit, dass es vor allem die Theologen selbst waren, die unerschrocken und unerbittlich die historisch-kritische Methode handhabten … Selbstverständliche Allgemeingültigkeit besitzt jetzt nur noch, was der Mensch als solcher mit seinen rationalen und empirischen Fähigkeiten erkennen, einsehen, begründen und kontrollieren kann». Vgl. G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Kirche und Theologie, in: ZThK (1950), 32f.
19 Vgl. A. Sierszyn, Der europäische Säkularismus, die Sprachlosigkeit der Kirchen und die Gefährdung des Kontinents. Kleine Schriften 8 (2.A.2016).

Der Übermut des Neuprotestantismus hat nicht nur unseren Kontinent und die ganze Welt mit bis an den Abgrund geführt; er hat durch seine vermeintlich wissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres Lichtes beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu sein.

Wir feiern das 500-Jahr-Jubiläum aber auch im Zeichen der Busse über Glaubensstreit und todbringende Rechthaberei auf beiden Seiten der Konfessionsgrenzen. Gewiss können wir unterschiedliche Glaubensweisen und Traditionen nicht unüberlegt mit schneller Hand als belanglos beiseiteschieben. Wir wollen als Christen aber auch nicht erst dann über die Konfessionsgrenzen hinaus herzliche Gemeinschaft pflegen und zusammen beten, wenn Feinde des Glaubens uns womöglich in den Kerker werfen und wir im Angesicht des Todes bei Wasser und Brot miteinander die Zelle teilen.

Schliesslich hat der Übermut des Neuprotestantismus nicht nur unseren Kontinent und die ganze Welt mit bis an den Abgrund geführt; er hat durch seine vermeintlich wissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres Lichtes beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu sein. Die Bibelkritik ist es auch, die den westlichen Kirchen allzu oft die Möglichkeit entzieht, in ethischen Grundfragen gemeinsam mit einer christlichen Stimme zu sprechen, um den Kulturen in den europäischen Gesellschaften die Suppe zu salzen.

500 Jahre Reformation sind ein Anstoss, im Raum der Kirche und darüber hinaus die ausgetretenen Wege des Zeitgeistes und des Niedergangs zu verlassen. Jesus Christus sagt seiner Kirche zu: «Ihr seid das Licht der Welt, lasst euer Licht leuchten!» Können wir noch aufwachen? Können wir noch ohne falsche Scham zum Evangelium stehen und seine starke Botschaft einem müde gewordenen Kontinent gegenüber neu und froh bezeugen? Die europäischen Kirchen präsentieren sich heute auf weite Strecken als völlig angepasst und eingeengt unter der Glocke der politischen Korrektheit. Darum sehen wir diese Kirchen auf so schmerzliche Weise zerfallen zu geistlichen Ruinen und bedeutungslosen Grabmälern Gottes. Deshalb braucht Europa eine neue Reformation! Denn «Gottes Wort ist nicht gebunden» (2. Tim 2,9). Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die verändert – gestern und heute. Beten wir dafür? Wollen wir das überhaupt? Der säkulare französische Schriftsteller Houellebecq spricht von der Notwendigkeit, uns auf dem alten Kontinent wieder «in Gekreuzigte zu verwandeln», denn einzig «eine spirituelle Macht wie das Christentum oder das Judentum wäre imstande, der spiritueller Macht des Islam zu widerstehen.»20 Es ist ein denkwürdiger, aber nicht unbiblischer Vorgang, dass der lebendige Gott einen bekennenden Heiden dazu beruft, seine treulose Kirche an ihre eigentliche Aufgabe zu erinnern. Viele europäische Christenmenschen verstehen vielleicht nicht einmal, was uns dieser wache Zeitgenosse anmahnt, weil ihnen zeitlebens einseitig und irreal nur die Süsse des Evangeliums gepredigt wurde. Als «Gekreuzigter leben» ist für das Neue Testament indes eine Selbstverständlichkeit (Mt 16,24; 2. Kor 4,7-12). Die Biografien von Paulus oder von Johannes Calvin zeigen die Vollmacht dieser in Europa vergessenen Christus-Nachfolge. Sind wir dazu bereit? Ich fürchte, nein. Unser serbelnder Kirchen-, Polit und Kulturbetrieb ist uns trotz seinem offenkundigen Versagen noch immer zu lieb. Vielleicht sind wir noch zu sehr verbandelt mit dem Schein von Geld, Macht, Gier und Haschen nach Wind. Von den alttestamentlichen Propheten lernen wir: In solch grosser Not und Gefährdung Europas kann die Hilfe nur von oben kommen. Dafür sollen «die siebentausend» inständig beten, «die ihre Knie nicht gebeugt haben vor Baal und jeder Mund, der ihn nicht geküsst hat» (1. Kön 19,18). Die Irrwege und Busstage des alttestamentlichen Gottesvolkes lehren uns: Gott kann sich unser und unserer Not erbarmen; er kann die «Höhenwinde» drehen lassen (siehe z. B. die Wende durch Israels Buss- und Bettag in 1. Sam 7). Er kann sich eine neue Generation und eine neue Kirche berufen, die seinen prophetischen Ruf hört und seiner Stimme zu gehorchen vermag. Gottes Wort nämlich ist die einzige Grösse, die nicht der Determination und der berechenbaren Wahrscheinlichkeit unterliegt. Das ist unsere Hoffnung. Ist die Kirche diesem Wort gehorsam, so bleibt sie frei – als einzige Grösse dieser Welt. Deshalb wird nur eine Kirche und Generation, die ganz neu nach Gottes Wort und Geist fragt und danach lebt, die Kraft haben, das müde Europa zu erleuchten und wieder munter zu machen. Darum und um nichts weniger geht es, wenn wir als Kirche der Reformation gedenken. So gehen wir mit unserer kleinen Kraft neu ans Werk – aus unterschiedlichen Kirchen und Freikirchen. Mitten auf einem gottvergessenen Kontinent in Schieflage stehen wir Hand in Hand auf dem festen Grund, den er selbst gelegt hat (1. Kor 3,11) und der Europa bis heute trägt. Und wir bekennen Gottes Heil und Gnade, die im Evangelium aller Welt kundgetan wird.


20 G. Besier, in: Katholische Nachrichten, 30.9.2016; NZZ Feuilleton, 27.9.2016."